Der Kassationshof äußert sich zu der Frage, welche „schwerwiegenden persönlichen Fakten“ sich dem Erwerb der belgischen Nationalität widersetzen

Das Gesetzbuch über die belgische Nationalität sieht vor, dass der Prokurator des Königs eine ungünstige Stellungnahme zu einer Staatsbürgerschaftserklärung abgegeben kann, wenn „schwerwiegende persönliche Fakten“ vorliegen.

Es ist umstritten, ob nur die im Gesetzbuch und im Ausführungserlass aufgelisteten Fakten einen Hindernisgrund zum Erwerb der belgischen Nationalität darstellen oder ob auch andere Gründe als „schwerwiegende persönliche Fakten“ angeführt werden können.

Der Kassationshof hat nun entschieden, dass nur die in der gesetzlichen/verordnungsrechtlichen Liste enthaltenen Fakten durch den Prokurator des Königs als „schwerwiegende persönliche Fakten“ angeführt werden dürfen (Kass., Entscheid C.20.0448.F vom 17. Juni 2022). Es handelt sich demnach um eine abschließende Auflistung.

Der EGMR fordert den Belgischen Staat auf, eine Verurteilung, einen Asylbewerber zu beherbergen, auszuführen

Seit Monaten sind zahlreiche Asylbewerber in Belgien mangels ausreichender Aufnahmeplätze auf sich selbst gestellt, bzw. auf die Solidarität der belgischen Zivilgesellschaft angewiesen. Viele leben auf der Straße.

In diesem Kontext hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erstmals eine einstweilige Maßnahme angeordnet:

Einem Asylbewerber war durch FEDASIL kein Aufnahmeplatz zugewiesen worden. Daraufhin zog er vor das Arbeitsgericht, welches FEDASIL unter Androhung eines Zwangsgeldes verurteilte, ihn zu beherbergen und ihm medizinische Unterstützung zu gewähren. Trotz mehrfacher Aufforderungen, diesen Asylbewerber unterzubringen, war FEDASIL der Verurteilung auch drei Monate nach der Verurteilung noch nicht nachgekommen. Der betroffene Asylbewerber lebte unterdessen weiterhin auf der Straße.

Der Belgische Staat wurde daher am 31. Oktober 2022 durch den EGMR (Rs. Camara g. Belgien) aufgefordert, die Verurteilung durch das belgische Arbeitsgericht, den Asylbewerber unterzubringen und ihm eine materielle Hilfe zu gewähren, auszuführen, damit er seinen Grundbedürfnissen nachkommen kann.

Zur Info: Der Gerichtshof gibt Anträgen auf einstweilige Maßnahmen nur in Ausnahmefällen statt, wenn der Antragsteller - ohne solche Maßnahmen - einem tatsächlichen Risiko ausgesetzt wäre, einen nicht wiedergutzumachenden Schaden zu erleiden. 

Arbeitsgerichtshof Brüssel: In Erwartung einer Unterbringung durch FEDASIL kann ein Asylbewerber Sozialhilfe beantragen

Die "Aufnahmekrise" in Belgien dauert an: Seit Monaten sind zahlreiche Asylbewerber mangels ausreichender Aufnahmeplätze auf sich selbst gestellt, bzw. auf die Solidarität der belgischen Zivilgesellschaft angewiesen. Viele leben auf der Straße.

Jeder Asylbewerber hat jedoch das Recht, eine sog. „materielle Hilfe“ in Form einer Unterbringung in einem Asylzentrum oder einer anderen Aufnahmestruktur zu erhalten.

FEDASIL ist deshalb bereits mehrere tausend Male verurteilt worden, einzelne Asylbewerber unterzubringen.

Entsprechenden Verurteilungen, selbst wenn sie mit einem Zwangsgeld versehen sind, kommt FEDASIL jedoch erst Wochen bis Monaten nach der Verurteilung nach.

Das Zwangsgeld hat sich als unzureichendes Druckmittel erwiesen, da FEDASIL als Einrichtung im öffentlichen Interesse über nahezu ausschließlich unpfändbare Sachen verfügt. FEDASIL hat also wenig zu befürchten, wenn es einer Verurteilung nicht zeitnah nachkommt.

Der Arbeitsgerichtshof Brüssel (Entscheid vom 28. September 2022) hat einem Asylbewerber, den FEDASIL unmittelbar unterbringen muss, daher die Möglichkeit eröffnet, sollte die Unterbringung nicht innerhalb von 48 Stunden erfolgt sein, sich an ein ÖSHZ zu wenden, um in Erwartung einer Unterbringung durch FEDASIL eine finanzielle Unterstützung in Form einer Sozialhilfe erhalten zu können.

Im Fachjargon spricht man von einer Nichtzuweisung/Streichung eines obligatorischen Eintragungsortes (Code 207).

Diese Rechtsprechung wurde u.a. in einem Entscheid vom 15. Dezember 2022 bestätigt.

Appellationshof Lüttich: Palästinensische Identitätsdokumente sind kein Beweis für eine „palästinensische Nationalität“

Dem aufmerksamen Leser unserer News wird nicht entgangen sein, dass die Fragen, ob Palästina ein Staat ist und ob es eine palästinensische Staatsangehörigkeit gibt, zur Zeit unterschiedlich durch die belgischen Gerichte beantwortet werden.

Zuletzt argumentierte die Staatsanwaltschaft, dass die Ausstellung von Identitätsdokumenten durch die Palästinensische Autonomiebehörde den Beweis dafür darstellen würde, dass deren Inhaber eine „palästinensische Nationalität“ besitzen würden.

Der Appellationshof Lüttich hat dieses Argument in mehreren Entscheiden vom 30. Juni 2022 verworfen und entschieden:

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Appellationshof Lüttich zu den Möglichkeiten für ein in Belgien geborenes Kind, das ansonsten staatenlos wäre, die belgische Nationalität zu erhalten, wenn dessen Eltern das subsidiäre Schutzstatut erhalten haben

Der Appellationshof Lüttich wurde mit der Frage befasst, ob ein Kind, das in Belgien geboren wurde und dessen Eltern das subsidiäre Schutzstatut erhalten haben, automatisch die belgische Nationalität erhält.

Artikel 10 des Gesetzbuches über die belgische Nationalität sieht vor, dass ein Kind, das in Belgien geboren wurde und staatenlos wäre, wenn es nicht die belgische Nationalität erhalten würde, die belgische Nationalität erhält, es sei denn es könnte eine andere Staatsangehörigkeit erhalten, indem entsprechende Verwaltungsschritte bei den Behörden des Landes/der Länder seiner Elternteile unternommen werden.

In seinem Entscheid vom 3. März 2022 geht der Hof zunächst auf zwei Verfahrensfragen ein:

  • Für Anträge auf Erteilung der belgischen Nationalität aufgrund von Artikel 10 des Gesetzbuches über die belgische Nationalität ist gemäß Art. 572bis des Gerichtsgesetzbuches das Familiengericht zuständig.
  • Die Berufungsfrist beträgt, wenn das Verfahren durch einseitigen Antrag eingereicht wurde, einen Monat ab der Notifizierung der Entscheidung des Familiengerichts (Art. 1031 GGB). Mit andren Worten: Die kurze 15-Tagesfrist, welche das Nationalitätsgesetzbuch im Falle von Staatsbürgerschaftserklärungen  vorsieht, findet in diesem Fall keine Anwendung.

Anschließend erläutert der Hof, in welchen Fällen das subsidiäre Schutzstatut der Eltern eine „absolute Unmöglichkeit“ darstellt, um Kontakt mit den Behörden ihres Herkunftslandes/ihrer Herkunftsländer aufzunehmen, wenn dieser erforderlich wäre, um die Nationalität des betroffenen Herkunftslandes zu erhalten, und ihrem Kind allein deswegen die belgische Nationalität zuerkannt werden kann (a), und in welchen Fällen zusätzliche Belege vorgelegt werden müssen, um nachzuweisen, dass das Kind keine andere Nationalität erhalten könnte, damit es Belgier werden kann (b).

(a) Eine Kontaktaufnahme mit den Behörden des Landes/der Länder seiner Elternteile könne nicht verlangt werden, wenn diesen das subsidiäre Schutzstatut zuerkannt wurde, da ihnen die Vollstreckung einer Todesstrafe oder Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Herkunftsland drohe.

Dies gelte im Übrigen auch für Flüchtlinge.

(b) Wenn den Eltern hingegen das subsidiäre Schutzstatut zugesprochen wurde, da für sie im Rahmen eines bewaffneten Konflikts eine ernsthafte individuelle Bedrohung bestehe, sei eine solche Kontaktaufnahme nicht automatisch unmöglich.

Demnach wurden die Eltern des betroffenen Kindes aufgefordert, Kontakt mit den Behörden ihres Herkunftslandes (Syrien) aufzunehmen, um zu versuchen, dem Kind die Staatsangehötigkeit dieses Landes verleihen zu lassen.

Schlussfolgernd hält der Appellationshof Lüttich fest, dass „wenn die von den Eltern bei ihren diplomatischen oder konsularischen Vertretungen unternommenen Schritte nicht dazu geführt haben, dass ihrem Kind die [syrische] Staatsangehörigkeit verliehen wird, beweist dies, dass das Kind nicht durch einen Verwaltungsschritt eine andere Staatsangehörigkeit erhalten kann, was zur Folge haben wüirde, dass ihm die belgische Staatsangehörigkeit gemäß Artikel 10 zuerkannt wird.“

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