In einem Entscheid vom 30. Januar 2020 (Akz. 2019/FU/20) hat der Appellationshof Lüttich die Gründe dargelegt, weswegen in Belgien die Palästinensischen Gebiete nicht als Staat anzusehen sind und Palästinenser demnach durch die Gerichte als Staatenlose anzuerkennen sind, insofern sie keine Nationalität haben.
Auch sei ggf. nicht zu prüfen, aus welchen Gründen Palästinenser das Schutzgebiet des Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) verlassen hätten.
Der Fall über den der Appellationshof Lüttich zu entscheiden hatte, betraf eine im Libanon geborene Person palästinensischer Herkunft, welche dort beim UNRWA registriert war.
1. Zuständigkeit der Gerichte
Zunächst stellt der Appellationshof Lüttich fest, dass es nach wie vor kein Verfahren zur Anerkennung der Eigenschaft der Staatenlosigkeit durch eine Behörde gibt, so dass die Gerichte weiterhin für entsprechende Anträge zuständig sind.
2. Verlassen des Schutzgebietes des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA)
Das Übereinkommen vom 28. September 1954 über die Rechtsstellung der Staatenlosen definiert einen Staatenlosen als „eine Person, die kein Staat aufgrund seiner Gesetzgebung als seinen Angehörigen betrachtet“.
Die Beweislast für die Erfüllung dieser Bedingungen liegt beim Antragsteller, wobei es reicht, dass genügend Elemente vorgelegt werden, die den Schluss zulassen, dass ihm keine Staatsangehörigkeit zugeordnet werden kann.
Das Übereinkommen über die Rechtsstellung der Staatenlosen findet jedoch keine Anwendung auf „Personen, denen gegenwärtig ein Organ oder eine Organisation der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen Schutz oder Beistand gewährt, solange sie diesen Schutz oder Beistand genießen“.
Viele Palästinenser sind beim Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) registriert.
Der Appellationshof Lüttich – wie zuvor der Kassationshof – ist der Ansicht, dass es ausreicht das Schutzgebiet des UNRWA verlassen zu haben, damit der Schutz dieses Hilfswerkes verloren geht. Somit findet die Ausschlussklausel keine Anwendung auf Palästinenser, welche sich in Belgien befinden.
3. Mögliche Verbindungen zu einem Staat
a. Zum Libanon
Aufgrund der hinterlegten Unterlagen sowie der Tatsache, dass die Staaten der Arabischen Liga seit 1965 eine explizite Politik verfolgen, palästinensischen Flüchtlingen nicht die jeweilige Staatsangehörigkeit zu verleihen und diese im Libanon über extrem eingeschränkte Rechte verfügen, kommt der Appellationshof Lüttich zu dem Schluss, dass der Antragsteller kein Libanese ist.
b. Zur Frage, ob es einen palästinensischen Staat gibt.
Der Appellationshof Lüttich prüft, ob Palästina ein "Staat" im Sinne des Übereinkommens über die Rechtsstellung der Staatenlosen ist.
Er hält zunächst fest, dass die Entstehung eines Staates ein politisch-soziologischer Vorgang ist und es bis zum heutigen Tag keine allgemeingültige Regelung gibt, die den Staat definiere.
Gemäß der völkergewohnheitsrechtlich akzeptierten Kriterien, die in Art. 1 der Montevideo-Konvention niedergeschrieben sind, müssten vier Merkmale vorliegen, damit es sich um einen Staat handle:
- eine ständige Bevölkerung: Diese Bedingung ist laut Appellationshof Lüttich in Bezug auf die palästinensischen Gebiete erfüllt.
- ein definiertes Territorium: Auch wenn die Meinungen der Rechtsexperten diesbezüglich variieren würden, ist der Appellationshof Lüttich der Ansicht, dass diese Bedingung erfüllt ist, insofern die Unbestimmtheit der Grenzen zwischen den Palästinensischen Gebieten und Israel in vergleichbarer Weise in anderen Regionen der Welt bestünde und auch im Falle Israels nicht dazu führe, dessen Staatlichkeit in Frage zu stellen.
- eine Regierung,
- die Fähigkeit, mit anderen Staaten in Beziehung zu treten.
Zweifel bestünden vor allem am Vorliegen einer souveränen palästinensischen Staatsgewalt, da Israel weiterhin die Außengrenzen und große Teile des Gebiets des Westjordanlands kontrolliere. Es bestehe ebenfalls Uneinigkeit darüber, ob Palästina die Fähigkeit besitze, in Beziehung mit anderen Staaten zu treten.
Der Appellationshof Lüttich bezieht wie folgt Stellung zu diesen Fragen:
- Die Palästinenser würden nur über eine begrenzte Herrschaftsgewalt über die von ihnen bewohnten Gebiete verfügen. Auch nach dem Oslo-Abkommen verblieben wichtige Aspekte der Staatsgewalt, insbesondere die äußere Sicherheit (z.B. die Kontrolle der Außengrenzen) bei Israel.
- Es gebe kein umfassendes Staatsbürgerschaftsgesetz, welches es ermögliche, eine Person, die aus einem arabischen Land in die Autonomiegebiete reise, zu registrieren. Vielmehr gelte die israelische Regelung, um zu bestimmen, wer „Palästinenser“ sei.
- Die gestärkte internationale Rolle (Beobachterstatus bei den Vereinten Nationen, Vollmitglied der UNESCO, Beitritt zum Römischen Statut zum Internationalen Strafgerichtshof, Vollmitglied von Interpol) Palästinas lasse ebensowenig den Schluss zu, dass es sich um einen Staat handle, da die Frage der Staatlichkeit im Rahmen dieser Beitritte zu diesen verschiedenen internationalen Organisation von den anderen Mitgliedern durchaus unterschiedlich bewertet worden sei, bzw. zum Teil gar nicht geprüft worden sei. Demnach habe in diesem Zusammenhang keine rechtsverbindliche Klärung der Frage stattgefunden, ob Palästina ein Staat sei.
- Was die Fähigkeit angehe, in Beziehung mit anderen Staaten zu treten, seien grundlegende Funktionen der Staatlichkeit (Errichtung palästinensischer diplomatischer Missionen im Ausland oder ausländischer Missionen in den palästinenischen Gebieten) in den Osloer Verträgen ausgeschlossen worden.
- Sowohl aus einem Beschluss des Europäischen Parlamentes vom 17. Dezember 2014 zu der Anerkennung der palästinensischen Eigenstaatlichkeit (2014/2964 (RSP)) als auch aus einer Resolution der belgischen Abgeordnetenkammer vom 5. Februar 2015 ergebe sich, dass das Europäische und das Belgische Parlament nicht von einer palästinensischen Eigenstaatlichkeit ausgehen würden.
Aus diesen verschiedenen Elementen schlussfolgert der Appellationshof Lüttich, dass in der Staatenpraxis und Völkerrechtswissenschaft bis heute Zweifel an der Staatsqualität Palästinas geblieben seien, so dass nicht gesichert davon ausgegangen werden könne, dass die vier o.e. Kriterien erfüllt seien.
Anschließend prüft der Appellationshof Lüttich das Verhältnis zwischen Belgien und Palästina.
Die Komplexität der Frage, ob es einen Staat gebe, ergebe sich aus dem Fehlen eines allgemein gültigen und anerkannten internationalen Regelwerkes, welches bestimme, wann man es mit einem Staat zu tun habe. Weder das Vorliegen der Voraussetzungen der Montevideo-Konvention noch die Theorien zur Anerkennung durch andere Staaten würden es ermöglichen die Frage, ob eine territoriale Einheit ein Staat sei oder nicht, abschließend zu beantworten. Das Bestehen eines Staates sei letztlich ein rein tatsächliches Phänomen, das sich aus der Analyse des Verhaltens von Staaten gegenüber der jeweiligen territorialen Einheiten ableiten lasse[1]. Vereinfacht gesagt sei ein Staat, wer sich wie ein Staat benehme und wie ein solcher behandelt werde[2].
Belgien behandle Palästina nicht wie einen Staat.
Jeder Staat könne Palästina (als Staat) anerkennen, wenn er der Ansicht sei, dass die Kriterien der Staatlichkeit im Falle Palästinas vorliegen würden. Eine Anerkennung Palästinas als Staat durch Belgien sei jedoch keine Bedigung der Staatlichkeit gemäß der Kriterien der Montevideo-Konvention, sondern nur die Konsequenz, wenn der Belgische Staat von einer Erfüllung der vier Bedingungen ausgehe.
Auch müsse der Gewaltenteilung und Art. 167 der Verfassung Rechnung getragen werden, wonach es dem König, bzw. der Föderalregierung und nicht den Gerichten obliege, die Staatlichkeit der Palästinensischen Gebiete festzustellen. Die offizielle Position der belgischen Föderalregierung sei jedoch Palästina nicht als Staat anzusehen.
Abschließend stellt der Appellationshof Lüttich daher fest, dass, selbst wenn er davon ausgegangen wäre, dass die Kriterien der Montevideo-Konvention erfüllt seien (was jedoch nicht der Fall war), eine solche Feststellung vor dem Hintergrund der bei Weitem noch nicht abgeschlossenen Debatten zu dieser Frage willkürlich wäre und die Realitäten des Rechtsverhältnisses zwischen Belgien und den Palästinensischen Gebieten verkennen würde. Eine solche Feststellung hätte zur Folge, dass Palästinenser aufgrund rein theoretischer Erwägungen vom Schutzbereich des Übereinkommens über die Rechtsstellung der Staatenlosen ausgeschlossen würde, auf der anderen Seite aufgrund der fehlenden Anerkennung durch den Föderalstaat jedoch weiterhin nicht wie eine Staatsangehörige eines anderen Staates behandelt würden.
Der Antragsteller wurde demnach als Staatenloser anerkannt.
*
Der Entscheid des Appellationshofes Lüttich gibt eine detaillierte Übersicht über die Kontroversen, die in Bezug auf die Staatlichkeit Palästinas bestehen. Anders als die Appellationshöfe von Gent und Brüssel (niederländischsprachig) kommt er zu dem Schluss, dass Palästinenser weiterhin als Staatenlose anerkannt werden müssen. Diese Rechtsprechung hat den Vorteil widersprüchliche Behandlungen der betroffenen Personen durch die belgischen Behörden (Föderalregierung, Ausländeramt, Gemeinden, …), die Palästinenser nicht als Staatsangehörige ansehen, und – im Falle einer Verweigerung des Status als Staatenlose – die Gerichte zu vermeiden, welche dazu führen könnte, dass manche Palästinenser in Belgien – entgegen der Ziele des Übereinkommens über die Rechtsstellung der Staatenlosen – einer gewissen "Schutzlosigkeit" ausgesetzt wären.
[1] J. D’ASPREMONT, „Kosovo and International Law: A Divided Legal Scholarship“, März 2008
[2] J. CRAWFORD, „The Creation of States in International Law“, Oxford University Press 2006, S. 421 ff.